oder eine andere Welt entdecken
Als ich Keith Johnstones Buch „Impro“ las, eröffnete sich für mich eine Welt. Plötzlich sah ich die Menschen um mich herum wie durch eine andere Linse, die bestimmte Verhaltensweisen vergrößerte, welche ich vorher überhaupt nicht bemerkt hatte. Der Hocker, der für mich vor dem riesigen Schreibtisch mit ausladendem Leder-Bürostuhl bereitgestellt wurde. Menschen, die im Zug nebeneinander Platz nehmen und ihre Füße Richtung Gang ausrichten. Ein Date in einem Cafe, bei dem sie sich lächelnd die Haare aus dem Gesicht zupft und er daraufhin sich mehr herüberlehnt. Überall ist Statusverhalten im Gange und ganz intuitiv reagieren wir die ganze Zeit darauf. Meist unbewusst passen wir unsere Gestik, Stimmführung, unser Raumverhalten an die Menschen um uns herum an.
Warum tun wir das? Wir wollen unsere Bedeutung gegenüber den anderen heben oder senken, je nachdem, was die Situation verlangt und wie wir glauben, dass wir unsere Ziele erreichen können. Dabei sind wir Status-Expert*innen – entweder möchten wir harmlos wirken und dem dem anderen Bedeutung geben, damit er uns wohlwollend gestimmt ist. Das kann bei einem Date funktionieren, indem wir mit einer Haarsträhne spielen und den Kopf leicht schräg legen. Dadurch kann sich die andere Person ermutigt fühlen und ein Risiko nach mehr Nähe eingehen. Das ist zum Beispiel die Strategie des Tiefstatus. Oder wir wollen unsere Bedeutung heben, wichtig erscheinen, Respekt einfordern, um damit unser Standing zu behaupten. Dann verschanzen wir uns auch mal hinter einem großen Schreibtisch und lümmeln und breitbeinig im breiten Lederstuhl, bieten dem Besucher aber nur einen schmalen Hocker an. Dann befinden wir uns im Hochstatus.
Wichtig ist: beides sind Strategien, die uns zu dem führen sollen, was wir uns wünschen. Wenn ich im Zug die Füße zum Gang ausrichte, zeige ich meiner Nachbarin, dass ich – trotz großer körperlicher Nähe – nicht in ihren Raum eindringen will. Ich versuche damit, wieder ein angemessenes Status-Gefälle herzustellen. Aber nicht immer sind wir damit erfolgreich. Kulturelle, gesellschaftliche und familiäre Prägungen stehen uns oft dabei im Weg. Wenn ich tief im Inneren glaube, dass ich unbedingt gefallen muss, wird es schwer, mit viel Ruhe in der Stimme und klarem Blick die Gehaltserhöhung zu fordern. Wenn ich überzeugt bin, dass ich mich ständig beweisen und stark sein muss, ist es fast unmöglich, mit zarter Stimme und geneigtem Kopf eine Entschuldigung vorzutragen.
Damit sind wir auch schon beim inneren Status, der die Komplexität drastisch erhöht. Was, wenn ich gerne selbstbewusst wirken und mich endlich mal durchsetzen möchte, mich aber innerlich ganz klein fühle? Dann gerät meine Unterhaltung schnell zu einem Fuchteln und Schreien. Dafür kann ein hoher innerer Status, der das Gefühl hat, seinen Platz in der Welt gefunden zu haben, sich auch nach außen ganz souverän kleiner machen und etwa Fehler eingestehen.
Bezogen auf die Bühne öffnete sich für mich mit Hilfe von Status ebenfalls eine neue Welt: Erstens konnte ich – im sicheren Umfeld- den Status erproben, der nicht mein eingeübter war. Zweitens hatte ich plötzlich ein Instrument, das mir anzeigte, wer ich in der Szene bin und mir über Status-Transformationen eine ganz einfache Art von Storytelling beibrachte. Aber erst als ich am Loose Moose Theatre „Minimal Gap Status“-Training erfahren habe, ist für mich die schauspielerische Bedeutung von Status komplett aufgegangen. Alle Szenen, in denen zwei Personen Geschirr spülen und über die Party letzte Nacht sprechen, um vermeintlich „natürlich“ zu agieren, bekamen nun eine echte Ebene. Party-Szenen folgten nun dem kinetischen Tanz und die improvisierten Familienszenen erinnerten mich nun eher an meine eigene familiäre Welt.
Und es hört nicht auf: Situationen werden glaubhafter, wenn ich dem Raum gegenüber ein Statusverhalten an den Tag lege. Komik funktioniert zu einem großen Teil über Status-Brüche, die den Rang nicht angreifen, aber zwischenmenschlich glaubhaft sind. Gesellschaftlich geprägter Status zeigt sich in Genre-Szenen, die gegen unsere Vorstellungen besetzt werden. Figuren können durch klare Zuteilung von innerem und äußerem Status geschaffen werden. Statusspiele geben uns das Gefühl von echten Freundschaften. Und … und… und…
Keith Johnstone schreibt in seinem Buch: „Theaterspiele“ (1) , dass man Status wohl bis in alle Ewigkeit erforschen kann. Dem kann ich nur hinzufügen, dass ich hoffe, dass möglichst viele Improspieler*innen sich diesem Forschungsprojekt verschreiben, damit wir das Holzschnittartige unseres Statusspiels endlich hinter uns lassen.
Nadine Antler, März 2025